Eine Sache, die mir als Graphic Recorderin - egal ob online oder vor Ort - immer wieder passiert, ist die Konfrontation mit der Tatsache, dass ich immer noch nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein kann. Was echt ein Unding ist, immerhin meditiere ich täglich, da sollte ich das eigentlich echt langsam mal können ;-)
Im "wahren Leben" (also ein Graphic Recording auf Papier vor Ort) werde ich häufig angefragt, wenn die Teilnehmenden in unterschiedliche Workshopräume gehen, um dort Lösungen für ein Problem zu erarbeiten. Online ist es im Prinzip genau das Gleiche, nur das man das dann Breakout-Räume nennt. In beiden Fällen muss eine Entscheidung und vor allem eine saubere Absprache mit dem Kunden geführt werden.
Starte ich mal mit dem "wahren Leben".
Für den Erfolg des Bildes ist es wichtig, im Briefinggespräch genau zu besprechen, wie in den unterschiedlichsten Methoden gearbeitet werden soll und mit dem Kunden zusammen die bestmögliche Lösung zu finden. Es gibt Wege, wie man das Problem lösen kann, dass man nicht gleichzeitig an mehreren Orten sein kann.
Hier ein paar Beispiele:
- Im Team mit einem zweiten Graphic Recorder.
- Der Kunde stellt mir jemanden an die Seite, der sich mit den Inhalten auskennt und die Kernaussagen heraushören kann. Dieser Helfer bringt mir dann auf Post-its die Inhalte und klebt sie an die Wand.
- Wenn beides nicht möglich ist, laufe ich durch die Räume und fotografiere die Flipcharts ab, welche die Teilnehmer in den einzelnen Workshops erstellt haben. Wichtig ist hier im Vorfeld die Absprache mit den jeweiligen Moderatoren, dass eine schriftliche Zusammenfassung erfolgt, die für mich verständlich ist.
- Ich entscheide mit dem Kunden zusammen, dass ich nur an einem Workshop teilnehme.
- Ich lasse mich im Vorfeld zu den Inhalten briefen und schreibe/zeichne diese während des Workshops (macht für mich aber selten Sinn, da es ja eigentlich um die erarbeiteten Inhalte der Teilnehmer geht).
In jeden Fall muss dieses Thema vorher gut mit dem Kunden abgesprochen werden, denn oft ist ihm diese Problematik gar nicht bewusst.
Eine tolle Möglichkeit, komplexe Methoden zu visualisieren, ist es, zu zweit an der Wand zu stehen. Es hilft nicht nur dem Prozess, es macht auch unglaublich viel Spaß, bringt eine ganz andere Dynamik ins Bild und man kann voneinander profitieren. Wenn viele Informationen in kürzester Zeit zu Papier gebracht werden müssen, ist das die einzige Möglichkeit, um ein vollständiges Ergebnis in Echtzeit abliefern zu können. Wichtig ist, im Vorfeld die Rollen aufzuteilen. Einer kann die Position übernehmen, die Informationen einzusammeln, während der andere zeichnet. Oder es gibt einen, der vielleicht besser zeichnen kann, während der andere besser strukturiert. Vielleicht gibt es einen »Lehrling«, der die Fleißarbeit wie großflächige Farben oder Schattierungen macht.
Das Foto hier ist übrigens in der Zusammenarbeit mit Heidrun Künzel entstanden, mit der ich in Teamarbeit im Auftrag für bikablo für Friday for Future mehrere Graphic Recordings in kürzester Zeit erstellt habe.
Die Frage, »Wozu?« das Bild am Ende dienen soll, kann entscheiden, welche Lösung man hierfür findet. Es gibt hundert Möglichkeiten, wie eine Zusammenarbeit fruchtbar und sinnvoll für den Prozess sein kann. Eine gute Vorbereitung und Absprache ist A und O.
Kommen wir jetzt zur Online Arbeit.
Die Absprachen mit dem Kunden sollten natürlich genauso klar sein, wie oben. Aber hier gibt es noch ein paar mehr Möglichkeiten, an die Informationen der unterschiedlichsten Workshops zu kommen.
- Wieder gibt es die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit einem Helfer. Da man hier keine Post-its empfangen kann, haben sich die virtuellen Pinnwänden als hilfreich herausgestellt. Ich persönlich arbeite sehr gerne mit Miro. Aber auch Mural oder Concepts sind gute Lösungsmöglichkeiten.
- Ebenfalls eine gute Lösung ist es, wenn der Helfer Zugang zu beispielsweise Google Docs oder ähnlichen Formaten hat und ich in Echtzeit sehe, was er dort eintippt.
- Eine ganz einfach Form der Kommunikation und fast ein wenig altbacken ist das gute alte Medium SMS oder Whats App parallel zum Workshopgeschehen.
Als sehr wichtig hat sich in diesem Zusammenhang für mich rauskristallisiert, ist eine sehr klare Kommunikation mit den Helfern. In welcher Form, wie viel und wann genau. Und auch der Hinweis, dass nicht alles in den letzten 10 Minuten aufgenommen werden kann. Oder auch: wenn nichts kommt vom Helfer, bleibt die Fläche, die ich für "seinen" Workshop vorgesehen hatte, einfach leer.
Ich rechne dem Kunden immer präzise vor, was realistisch ist. Beispielsweise ist die Workshopphase eine Stunde und es gibt 10 Workshops / Breakouts. Das wären 6 Minuten für jede Gruppe. Bedenkt man, dass in der ersten viertel Stunde noch nicht viel Inhalt erarbeitet werden kann, sind es nur noch 4,5 Minuten pro Gruppe. Pro Inhalt brauche ich 2-3 Minuten. Der Helfer bräuchte mir also in diesem Fall nur 2 kurze knackige Sätze liefern. Mehr schaffe ich eh nicht in Echtzeit. Nicht eigerechnet ist hier die Laufzeit: falls ich selber in die Workshopräume laufen muss, um mir die Inhalte abzuholen. Dann wird es noch weniger Zeit fürs eigentliche Zeichnen.
Kurz und knackig wäre das nächste Thema, was sich lohnt, anzusprechen. Bandwurmsätze, die ich nicht verstehe, ignoriere ich. Für Rückfragen und Zwischentelefonate habe ich keine Zeit (siehe Beispiel oben: 4,5 Minuten fürs Zeichnen. Das ist nicht viel!).
Und dann gibt es noch....
online die Möglichkeit, überhaupt nicht live mitzuzeichnen, sondern alles im Nachgang zu zeichnen. Manchmal braucht es den Mehrwert des Live Zeichnens gar nicht. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn das Bild nicht live genutzt wird, um entweder daran weiterzuarbeiten oder noch mal die letzte Stunde rekapitulieren zu lassen. Wenn der Mehrwert des Graphic Recordings einzig und alleine darin liegt, eine nachhaltige Erinnerung an den Tag zu haben, kann man das Event auch mit Hilfe einer Aufnahme zeitverzögert nachzeichnen. Dann kann man sich im Nachgang auch in alle Breakouträume einwählen und vor allem immer mal wieder die Stop-Taste drücken. Die Gefahr, sich hier zu verfriemeln besteht allerdings ;-)
Also alles steht und fällt mit der Frage nach dem "Wozu wird dieses Graphic Recording benötigt?" Oder auch, "wie wird es benötigt", oder "wann". Ihr merkt, ich frage meinen Kunden echt Löcher in den Bauch...
Ich habe ein paar Inhalte in diesem Blog meinem eigenen Buch entnommen. Im Buch "GRAPHIC RECORDING. DAS 1x1 DER LIVE VISUALISIERUNG" beschreibe ich sehr detailliert, welche Absprachen im Vorwege notwendig sind und welche Lösungsmöglichkeiten es genau für das hier geschilderte Problem gibt. Erschienen ist das Buch im MITP Verlag und in jedem Buchhandel erhältlich oder auch direkt bei mir (wer will auch mit Widmung) zu bestellen.
Ich wünsche allen eine kraftvolle Woche und sende sonnige Grüße aus meinem momentanen Homeoffice auf Gran Canaria,
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Andreas Hoffmann (Freitag, 04 Februar 2022 11:04)
Liebe Martina,
eine sehr gute und hilfreiche Zusammenfassung hast Du ausgearbeitet. Kompliment. Superschön wie Du die reale Zeichenzeit berechnest, dass mache ich ebenfalls gerne und der Kunde ist über die mathematischen Fähigkeiten begeistert. Zu zweit oder zu dritt arbeiten ist die tollste Lösung, wenn es das Anforderungsprofil erlaubt, finde ich. Irgendwie birgt jeder Job ein paar neue Facetten. Das Portfolio wächst und somit unsere Erfahrung. Das ist einfach klasse.
Ich freue mich, wenn ich bei Kollegen zwischen den Zeilen lesen kann und vergleichen kann.
Deine Beiträge sind immer sehr wervoll. Viel Spass noch auf den Kanaren, einer der schönsten arbeitsplätz Europas.:-) Liebe Grüße, Andreas